Aktualität der Antike

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Die Aktualität der Antike – ein Beispiel von Dr. Michael Lobe

I. Ovid über die Privatisierung von Wasser
In der zwei Jahrtausende alten Metamorphosendichtung des römischen Dichters Ovid findet sich eine Episode, in der die Göttin Latona, die Mutter zweier prominenter Götter, Apoll und Diana, mit ihren Säuglingen in sommerlich flirrender Gluthitze durch Lykien irrt. Als sie endlich ein Wasserloch findet, verwehren ihr dort Schilf schneidende Bauern den Zugang zum lebenserhaltenden Nass – ja, mehr noch: Aus purer Boshaftigkeit wühlen sie mit Füßen und Händen das Wasser auf, sodass es ungenießbar wird. Die Göttin spricht empört: „Weshalb verwehrt ihr mir das Wasser? Der Gebrauch von Wasser ist ein Allgemeingut. Nicht hat die Natur das Sonnenlicht, die Luft und die schimmernden Wellen zum Privateigentum gemacht: Ich bin zu Gütern gekommen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind.“
Ovid, dessen Vater seinen Sohn lieber als Rechtsanwalt denn als Dichter gesehen hätte, lässt die Göttin ihre moralische Klage gegen die Bauern in römisch-juristischem Vokabular führen. Wenn sie vom Allgemeingut (usus communis) bzw. für die Öffentlichkeit bestimmten Gütern (publica munera) spricht, spielt dies auf geltendes Recht an. Das römische Recht schloss nämlich kategorisch bestimmte Güter davon aus, als Privateigentum beansprucht zu werden. Im Einzelnen waren dies sog. res divini iuris (den Göttern geweihte Dinge wie Kultgegenstände oder Tempel), sog. res publicae (im Gemeingebrauch stehende Dinge wie öffentliche Plätze, Strassen, Flüsse, Seen und Wasserleitungen) sowie sog. res communes omnium (allen gemeinsam gehörende Dinge wie die Luft, fließendes Wasser und das Meer mitsamt seinen Stränden).  Versammelt waren diese Ausnahmen unter dem Sammelbegriff res extra commercium – Dinge, die außerhalb des Privatrechts standen, mithin also aus jeglicher merkantilen Logik des Handelns, Kaufens und Verkaufens herauszuhalten waren. Genau darauf beruft sich Latona, wenn sie den Bauern erklärt, dass der Gebrauch von Licht, Luft und Sonne allen Menschen uneingeschränkt zur freien Verfügung steht und keinesfalls von Privatpersonen exklusiv genutzt werden darf.


II. Privatisierung von Wasser im 21. Jahrhundert
Die bei Ovid verhandelte Problematik ist höchst aktuell: Große Konzerne wie Coca Cola oder Nestle kaufen in vielen Ländern des Südens (Argentinien, Brasilien, Bolivien u.a.) Gebiete auf, die reich an Wasserquellen sind. Die Bevölkerung wird von der ursprünglich kostenlosen und für die Allgemeinheit zur Verfügung stehenden Grundwasserversorgung abgeschnitten und vielerorts mangels Alternative dazu gezwungen, die von Privatfirmen aus diesem Wasser hergestellten Getränke zu kaufen. Die Folgen der Privatisierung – in seiner ursprünglich lateinischen Bedeutung heißt dieses Wort soviel wie „Enteignung“ oder „Raub“ (lat. privare) – sind gravierend: Die Preise für Wasser steigen, ländliche Regionen werden benachteiligt und die Qualität des Wassers nimmt ab, da die Übernutzung der natürlichen Quellen zu demineralisiertem Wasser führt. Aber auch in Europa haben viele Kommunen ihre Stadtwerke internationalen Firmen ausgeliefert – unter dem Schlagwort Public Private Partnership werden Allianzen zwischen öffentlichen Institutionen und Privatfirmen geschlossen. Die öffentliche Hand erhofft sich die Steigerung von Effizienz und finanzielle Einsparpotentiale, die Privatwirtschaft spekuliert auf den Return der zuvor getätigten Investitionen. Diese Übereinkunft geht meist zu Lasten Dritter: der Bürger. Sie zahlen die zur Erzielung der Rendite ansteigenden Preise und müssen sich mit sinkender Versorgungsqualität abfinden: Denn um die Gewinnmarge zu erreichen, werden Grenzwerte der Belastung bis zum Äußersten ausgereizt, und nicht rentable, zuvor von der öffentlichen Hand garantierte Leistungen werden abgebaut oder ganz eingestellt. An dieser Stelle kann keine ökonomisch-historische Diskussion geführt, aber immerhin darauf hingewiesen werden, dass a) Privatisierungen weiter auf dem Vormarsch sind, weil Staaten und Kommunen nicht nur aufgrund der Finanzkrise große finanzielle Probleme haben, b) sie wesentlicher Bestandteil der neoliberalen Ideologie sind, der zufolge der Staat auszuhungern (Margret Thatchers Motto: ‚Starve the beast’) und das Heil in der Privatwirtschaft zu suchen sei, und c) Privatisierungen nicht nur auf die Wasserversorgung beschränkt sind, sondern nahezu alle Lebensbereiche betreffen, auch ideelle Institutionen wie Schulen und Universitäten. Wer weiß z.B., dass die unter dem Banner der OECD veranstalteten PISA-Studien letztlich ein lohnendes Millionengeschäft für einige große Privatfirmen sind, die das PISA-Paket inzwischen an über 60 Länder verkauft haben? Im Einzelnen sind dies die Firmen „Australian Council for Educational Research Ltd., Educational Testing Service und WESTAT Incorporated aus den USA und die in den Niederlanden basierte CITO-Gruppe.“


III. Die Rolle der Politik im kaiserzeitlichen Rom und im 21. Jahrhundert
Die kaiserliche Nomenklatura im augusteischen Rom zur Zeit Ovids wusste in einer entwickelten Merkantilgesellschaft genau um die Problematik privatisierter Güter und handelte entsprechend: Der bedeutende Flottenadmiral und Schwiegersohn des Augustus, Marcus Vipsanius Agrippa, ließ über 300 Brunnenanlagen in Rom errichten und eine gewaltige Wasserleitung bauen, die Aqua Virgo, die bis heute als Acqua Vergine Brunnen im nordwestlichen Rom speist. Agrippa stellte für die stadtrömische Bevölkerung Wasser in Hülle und Fülle zur Verfügung –selbstredend nicht nur ein Akt reiner Wohltäterei, sondern gedacht auch als Mittel, um die neue Staatsform des Prinzipats bei der Bevölkerung zu legitimieren. Diese im Vergleich zum modernen Sozialstaat freilich sehr rudimentäre Form staatlicher Fürsorge galt mit dem Wasser aber immerhin einem wesentlichen, lebenserhaltenden Gut, das als res extra commercium für alle zur Verfügung stand. Im 21. Jahrhundert ist dies, wie angedeutet, keine communis opinio mehr. Unsere Zeit entwickelter Demokratien lässt sich nur schwer mit den Zuständen des frühkaiserlichen Rom vergleichen – aber es scheint bisweilen, als sei heutigen Politikern gegenüber privaten Großverbünden der Finanzmacht die gleiche Rolle zugedacht wie den Senatoren gegenüber dem Kaiser. Zwei Gegenwartsstimmen legen beredt Zeugnis von den wahren Machtverhältnissen ab: Der ehemalige EnBW-Manager Utz Classen sagte jüngst in einer Talkshow, dass Verhandlungen zwischen Politik und Privatwirtschaft mitunter einer Diskussion zwischen Leichtmatrosen und Konteradmirälen glichen, und der philosophische Gegenwartsdiagnostiker Peter Sloterdijk gebraucht eine aus der Antike und ebenfalls aus der Nautik stammende Metapher, um den Zustand heutiger Politik zu beschreiben: Galten Politiker einmal als Lenker des Staatsschiffs, so seien sie heute am ehesten mit Schiffsgästen zu vergleichen, die sich von den Schiffseignern die komplexen Armaturen zeigen ließen, um beeindruckt anzumerken: „Sehr interessant.“

Die Aktualität der Antike II - ein zweites Beispiel von Dr. Michael Lobe: Verschwörungstheoretiker im Alten Rom?

15. März 44 v. Chr.: Cäsars Ehefrau Calpurnia erzählt ihrem Mann von einem bösen Alptraum, nach dem das Haus über den Eheleuten zusammengestürzt sei; Cäsar solle keinesfalls in die Senatssitzung gehen, die an diesem Tage anberaumt war. Wochen zuvor schon hatte der Haruspex Spurinna Cäsar bei einem Staatsopfer vor einer bevorstehenden Gefahr gewarnt, weil in den Eingeweiden des Opferstiers partout kein Herz hatte ausfindig gemacht werden können.1) Cäsar macht sich gleichwohl auf den Weg in die curia Pompeii, als ihm ein Billett mit einer Liste potentieller Attentäter zugesteckt wird.2) Auch davon habe Cäsar keinerlei Notiz genommen, wenn man den antiken Quellen glaubt, sondern sei schnurstracks in das Versammlungsgebäude auf dem Marsfeld geeilt. Der Rest ist Geschichte: Eine Gruppe verschwörerischer senatorischer Adliger umringt den stolzen Julier unter dem Vorwand des Gesprächs, bis Tullius Cimber als verabredetes Zeichen Cäsar die Toga von der Schulter zieht: Wenig später bricht Cäsar unter 23 Messerstichen gemeuchelt zusammen.
Eine Verschwörung ist per definitionem, wenn mindestens zwei (oder mehr) Personen sich heimlich verabreden mit dem Ziel, eine (oder mehrere) dritte Personen zu deren Nachteil zu schädigen. Man könnte diesen Sachverhalt der klandestinen Planung und Ausführung auch Verschwörungspraxis nennen; klar sein dürfte jedenfalls, dass die Realisatoren einer Verschwörung, eben die Verschwörungspraktiker mit Fug und Recht als Täter zu bezeichen sind. Unsere Gegenwart hingegen scheint unter einer schweren Begriffsverwirrung zu leiden, wenn sie den sog. ‚Verschwörungstheoretiker‘ diffamiert oder gar kriminalisiert, denn: Ein Theoretiker ist schon dem Begriffe nach kein ausführender Praktiker, sondern lediglich ein Beobachter, der aus einer Fülle belastbarer Daten und Fakten eine Ermittlungshypothese aufstellt – das ist im Übrigen seit jeher das ehrwürdige Verfahren jeglicher Wissenschaft (Hypothesenbildung mit anschließender Falsi- oder Verifikation im Experiment), das ist das Vorgehen jedes Kriminologen, der nach Beweisen für die Täterschaft eines Verdächtigen sucht, ebenso Usance des Ermittlungsrichters, der aus der Befragung verschiedener Zeugen den wahren Tathergang zu ermitteln sucht, und nicht zuletzt das Verfahren des investigativen Journalisten, der durch präzise Recherche auffälligen Spuren (vestigia) eines merkwürdigen Vorgangs nachgeht. Bis zum Erweis des blutigen Gegenteils wären nach landläufigem modernen Verständnis sowohl der Eingeweidebeschauer Spurinna, Cäsars Ehefrau Calpurnia und der anonyme Übermittler der Attentäterliste Verschwörungstheoretiker gewesen – sie alle hatten zwar keine wissenschaftlich zu nennende Hypothese, aber doch eine Vorahnung des bevorstehenden umwälzenden Ereignisses – sei es, wie immer man das bewerten mag – aus einer metaphysischen Ader heraus (Spurinna), aufgrund weiblicher Intuition (Calpurnia) oder gar intimer Kenntnis der Dinge (der anonyme whisteblower). Alle drei waren Verschwörungstheoretiker, ohne sich dessen bewusst zu sein – und alle drei hatten recht, wie die Iden des März bewiesen. Verschwörungen durch interessengeleitete Verschwörungspraktiker sind keine Hirngespinste, sondern ein historisches Faktum – von der Blutvesper von Ephesus im Jahre 88 v. Chr., als König Mithridates zeitgleich und konzertiert in verschiedenen Städten Kleinasiens an die 80000 römische Staatsbürger hinterrücks umbringen ließ, bis hin zum sog. ‚Phoebuskartell‘ von 1925-1942, wo internationale Glühlampenkonzerne zu Lasten der Verbraucher Absprachen trafen, wonach u.a. die Lebensdauer von Glühlampen auf 1000 Stunden standardisiert reduziert wurde. Ein dickerer Glühdraht hätte den Birnen ewige Dauer verliehen, hätte aber nicht dem Geschäftsmodell der absichtlich kurzen Funktionsdauer (Obsoleszenz) entsprochen. Sollte es heute noch so böse Menschen, Verschwörungspraktiker, geben? Festzustehen scheint jedenfalls, dass es viele, viele Verschwörungstheoretiker gibt. Kann man aus der römischen Geschichte und der Sentenz des Horaz Sapere aude 3) lernen? Der Verfasser hofft es jedenfalls.

1) Cicero, de divinatione 1,119 Quod ne dubitare possimus, maximo est argumento quod paulo ante interitum Caesaris contigit. Qui cum immolaret illo die quo primum in sella aurea sedit et cum purpurea veste processit, in extis bovis opimi cor non fuit. Num igitur censes ullum animal, quod sanguinem habeat, sine corde esse posse? Qua ille rei [non est] novitate perculsus, cum Spurinna diceret timendum esse ne et consilium et vita deficeret: earum enim rerum utramque a corde proficisci. Postero die caput in iecore non fuit. Quae quidem illi portendebantur a dis irnmortalibus ut videret interitum, non ut caveret.

2) Sueton div. iul. 81 quinta fere hora progressus est libellumque insidiarum indicem ab obvio quodam porrectum libellis ceteris, quos sinistra manu tenebat, quasi mox lecturus commiscuit.

3) Hor. ep. 1, 2, 40. Immanuel Kant machte es zum Motto der Aufklärung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784, 481-494, zitiert nach: Immanuel Kant. Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, hrsg. von Horst D. Brandt. Hamburg 1999, S. 20)