1. Stadthistorische Einführung

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1. Stadthistorische Einführung

Stadthistorische Einführung: Der Schulhausneubau in der Sulzbacher Straße 1909-1911

von Dr. Martina Bauernfeind

Am 24. April 1911 zelebrierten Schüler, Lehrer und Ehemalige in einem großen Festzug den Wechsel des Alten Gymnasiums vom traditionsreichen Schulstandort am Egidienberg in das neue Domizil an der Sulzbacher Straße. Welche Umgebung bestimmte nun das Lern- und Lebensumfeld der Schulgemeinschaft, die in fuß-läufiger Distanz zum alten Lernort nun im Stadtteil Gärten bei Wöhrd einen ganz anderen Stadtcharakter vorfand?

„In dem Raume zwischen der doppelten Stadtmauer, (dem Zwinger), und dem ehe-maligen großen Stadtgraben, und in den Vorstädten, sind viele Gärten“ (1)  beschrieb 1793 der Romantiker Wilhelm Heinrich Wackenroder das nördlich an die Stadtmauer anschließende Gebiet des Burgfriedens.

Grundriß der Stadt Nürnberg samt den Vor-Städten und Gärten, 1725. (Stadtarchiv Nürnberg)

Wöhrd und Gärten bei Wöhrd. Ausschnitt aus Grundriß der Stadt Nürnberg samt den Vor-Städten und Gärten, 1725. (Stadtarchiv Nürnberg)

Seit dem Mittelalter umgab die Stadt ein nahezu lückenloser Grüngürtel mit etwa 300 Gärten, die von wohlhabenden Nürnberger Familien, vor allem des Patriziats, der Kaufmannschaft, aber auch Handwerkern und Künstlern wie Albrecht Dürer unterschiedlich angelegt und genutzt wurden.
Vor allem Großkaufleute mit Handelsbeziehungen nach Italien, den Niederlanden und in die Levante, aber auch nach Nürnberg Zugewanderte, wie zum Beispiel Glaubensmigranten, leiteten mit der Einführung mediterraner Pflanzen sowie Kenntnissen über die Kultivierung den Wandel vom Nutz- zum Repräsentationsgarten ein. Dieser Wissens- und Gütertransfer sowie die Übernahme barocker Stilelemente holländischer und italienischer Anlagen im 17. und 18. Jahrhundert markierten schließlich die Blütezeit der Nürnberger Gartenkultur. Zum Gestaltungskanon zählten das Haupthaus an der Straßenfront als Sommerwohnung, Tor und Hofraum, der Garten selbst mit Gartenhaus beziehungsweise Gärtnerswohnung, Brunnen und Statuen als Dekor sowie einem Warmhaus zur Überwinterung der Süd- und Citrusfrüchte.

Die so genannten Hesperidengärten avancierten insbesondere nördlich der Stadtmauer mit St. Johannis, Gärten hinter der Veste und Gärten bei Wöhrd zum Ausweis Nürnberger Gartenkunst in ganz Deutschland.

Bemerkenswert dabei ist, dass sich das Raster der Gartenanlagen im Laufe der Jahrhunderte fast nicht veränderte und vielfach die Koordinaten des um 1900 entstehenden Straßennetzes vorgab. In den Gärten bei Wöhrd mischten sich Nutz- und Repräsentationsgärten. Die Gartengebäude standen hier meist an der Straße und in einer Flucht aneinandergereiht. Wie das Haus mit seinen Räumen, so dienten auch der Hof und der Garten mit Statuen, Brunnen und Terrasse Repräsentationszwecken. Daran schloss durch eine Hecke abgetrennt meist der Nutzgarten mit Obst und Gemüse an.

Das Merkelsche Gartenanwesen. Detail-Ausschnitt aus Grundriß der Stadt Nürnberg samt den Vor-Städten und Gärten, 1725. (Stadtarchiv Nürnberg)

Zu den eindrucksvollsten Gartenanlagen in Gärten bei Wöhrd zählt das nach seiner letzten Besitzerfamilie benannte Merkelsche Anwesen an der Sulzbacher Straße 30/32. Der Garten zählte mit rund 1,5 Hektar zu den größeren Gartenanwesen vor den Toren der Stadt (2).

Fassade des Gartenpalastes an der Sulzbacher Straße, Foto 1908. (Stadtarchiv Nürnberg)
Ecke Sulzbacher Straße/Merkelsgasse mit Seitengebäude, Foto 1908. (Stadtarchiv Nürnberg)

Die Formierung dieses Gartenanwesens erfolgte 1534 durch den Nürnberger Bürger Konrad Zeunlein, der mehrere Grundstücke erwarb und zu dem Anwesen zusammenfasste. Nach mehrfachem Besitzerwechsel kaufte 1797 der Kaufmann und Aufklärer Paul Wolfgang Merkel den Garten. Merkel war verwandtschaftlich mit der Vorbesitzerfamilie Merz verbunden und hat wohl die Ausstattung der Gebäude und des Gartens auf den dann letzten Stand gebracht. Als er das Anwesen übernahm, umfasste es laut Verkaufsurkunde ein Haupt- und zwei Seitengebäude, an der südlichen Grundstücksgrenze, eine Gärtnerwohnung, verschiedene Stallungen für Pferde, Rindvieh und Schweine, einen Vogelherd, eine Orangerie, 16 Statuen, einen kupfernen Wasser-Sammelkasten und Waschkessel sowie drei große im Saal angebrachte Spiegel. (3)

An der 1865 so benannten Sulzbacher Straße (4)  (zuvor entsprechend der Richtung Laufer Straße) lag das lang gestreckte, durch zwei Steinportale von den beiden Seitengebäuden getrennte Hauptgebäude.(5)

Fassade des Gartenpalastes zum Hof mit den beiden steinernen Brunnentrögen, Foto 1908. (Stadtarchiv Nürnberg)

Die Hoffassade entsprach in ihrer Gestaltung der Straßenfassade. Hier waren zwei steinerne Brunnentröge eingelassen. Einer dieser Brunnentröge steht noch jetzt an der Ostseite des Schulhofes.

Der Saal im Obergeschoß des Gartenpalastes, Foto 1908. (Stadtarchiv Nürnberg)

Das Herzstück der Repräsentationsräume markierte im Obergeschoß der Große Saal. Bei dessen im Stil des italienischen Barock ausgeführter Stuckdecke handelt es sich vermutlich um eine Arbeit des seit 1690 in Nürnberg tätigen Meisters Donato Polli. Die Decke wurde in die Aula des Melanchthon-Gymnasiums integriert, aller-dings ohne die Gemälde.

Die beiden Pavillons inmitten des Baumbestandes, Foto 1908. (Stadtarchiv Nürnberg)

Im Garten standen zudem zwei achteckige Sommerpavillons, an die sich die Terrasse mit Springbrunnen anschloss. Der Wasserbezug erfolgte aus einer Drahtmühle in Wöhrd mit eigenem Wasserrecht.

Um 1900 verfügte der Garten noch über folgende Gartengehölze (6):  71 Birnbäume, 53 Apfelbäume, 42 Pflaumenbäume, 3 Kirschbäume, 60 Stachelbeersträucher, 53 laufende Meter Weinspalier, 30 laufende Meter Rosenhecke, 64 Rosenbüsche, 72 Hainbuchen, 1 Ulme, 1 Fichte, 1 Linde, 2 Ahorne, 3 Akazien, 1 Holler, 4 „Küchlesholler“, 1 Japanischen Quitte, 2 Feigen in Kübeln sowie über 100 Meter Grenzhecke.

Gartenanlagen wie diese gaben dem Stadtteil Gärten bei Wöhrd also seinen Namen. Die Gemarkung – so die korrekte verwaltungstechnische Bezeichnung – reicht heute vom westlichen Pegnitzufer im Süden bis zum nördlichen Rand des Stadtparks im Norden. Nach Westen wird sie von der Stadtmauer bis zum Maxtorgraben und dann von der Straße am Stadtpark begrenzt. Im Osten markieren die Äußere Bayreuther Straße mit der Gemarkung Rennweg und die Gemarkung Veilhof die Grenzen. Die Eingemeindung von Gärten bei Wöhrd erfolgte als Teil des Burgfriedens 1825.

Die Luftaufnahme von 1927 zeigt den südlichen Teil des Stadtteils Gärten bei Wöhrd mit dem Prinzregentenufer, dem Cramer-Klett-Park und der Ausdehnung nach Osten. (Stadtarchiv Nürnberg)

Die Luftaufnahme von Hajo Dietz von 2010 zeigt den nördlichen Teil der Gemarkung mit dem Melanchthon-Gymnasium am rechten Bildrand. (Stadtarchiv Nürnberg)

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdichtete sich im Zuge der Stadterweiterung und Erschließung die Bebauung, so dass Anfang des 20. Jahrhunderts der Stadtteil Gärten bei Wöhrd mit dem benachbarten Rennweg und Veilhof zusammengewachsen war. Beschleunigenden Anteil an dieser Entwicklung hatte der südlich von den Gartenanwesen gelegene Industrievorort Wöhrd, der mit zahlreichen Mühlen und bereits fabrikähnlichen Betrieben zusammen mit Gostenhof die Wiege der Industrialisierung bildete. Hier galten nicht die strengen reichsstädtischen Vorschriften der Handwerksordnungen und in Wöhrd lieferte die nahe Pegnitz die für Hämmer und Mühlen notwendige Antriebsenergie, was die Ansässigmachung neuer Gewerbe begünstigte. Außerdem fanden Neugründer aufgrund der weit reichenden Platzreserven der Gärten bei Wöhrd ideale Standortbedingungen vor.

Als prominentester vorindustrieller Handwerkerunternehmer ließ sich 1822 der gelernte Müller, Techniker und Erfinder Johann Wilhelm Spaeth hier nieder und eröffnete in Verbindung mit der Tuchmanufaktur Lobenhofer eine eigene Mechanikerwerkstatt. Als einer der ersten vollzog 1847 Heinrich Philipp Lobenhofer den Schritt zur industriellen Fertigung und gründete eine mechanische Spinnerei gekämmter Schafwolle, die Nürnberger Kammgarnspinnerei.

Wenig Erfolg hatte 1830 zunächst die Gründung Johann Friedrich Kletts einer maschinengestützten Schafwollspinnerei in Gärten bei Wöhrd am Kesslerplatz. Das Unternehmen wurde wegen mangelnder Rentabilität dort bald aufgegeben. Doch schon 1837 richtete Klett an gleicher Stelle eine mechanische Werkstätte ein, aus der die Firma Klett & Co hervorging. Produziert wurden zunächst Gusswaren und Dampfmaschinen. 1847 spezialisierte sich die Firma unter Leitung von Theodor von Cramer-Klett auf Eisenbahnwaggons, Krananlagen und Brückenbauten, avancierte zur führenden Maschinenfabrik Bayerns und zählte über Deutschland hinaus zu den Branchenführern. 1872 wurde nach dem Unternehmer die Verbindung vom Laufertorgraben zur Wöhrder Hauptstraße in Innere und Äußere Cramer-Klett-Straße benannt. Sie war zuvor schlicht als Wöhrder Straße oder Straße nach Wöhrd bezeichnet worden. (7)

Das Firmengelände auf einem ehemaligen Gartengrundstück erstreckte sich fast bis zum Pegnitzufer und 1855 fanden schon rund 1.300 Menschen dort Arbeit. 1897 musste das Unternehmen aufgrund von Platzmangel – mittlerweile waren 2.700 Menschen bei Klett beschäftigt – in den Süden Nürnbergs verlegt werden. Ein Jahr später erfolgte die Fusion mit der Maschinenfabrik Augsburg zur MAN.

Wohn- und Bürohaus der Firma Earnshaw an der Gießereistraße 2. (Stadtarchiv Nürnberg)

Auf dem Sektor des Maschinenbaus erlangte zudem die Firma Earnshaw & Comp. überregionale Bedeutung. 1848 gründete der Schotte James Edward Earnshaw aus Dundee, ehemaliger Mitarbeiter Kletts, in der Gießereistraße 2 eine eigene mechanische Werkstätte. 1852 wurde das Unternehmen um eine Eisengießerei erweitert.(8)

Plan mit Gießerei und Gartengrundstück als Baulandreserve 1862. (Stadtarchiv Nürnberg)

Plan des Merkelschen Gartens 1905. (Stadtarchiv Nürnberg)

Neben der Gießerei und dem Merkelschen Garten zeigt der Plan zwei noch unbenannt Straßen. Noch vor 1869 wurde die Verbindung von der heutigen Georg-Strobel-Straße zur Äußeren-Cramer-Klett-Straße in Gießereistraße benannt. Die nördlich zum Grundstück verlaufende heutige Georg-Strobel-Straße erhielt 1865 den Namen Fabrikstraße. Die Umbenennung nach dem Wöhrder Pfarrer und Ortshistoriker Georg Strobel erfolgte erst 1952. (9)

Neben den frühen Fabrikgründungen machte eine Reihe von Firmenverlagerungen Wöhrd, Gärten bei Wöhrd und den Stadtteil Rennweg zum Industrieviertel. Der Schwerpunkt tendierte nun weg vom Pegnitzufer hin zum Stadterweiterungsgebiet in den Gärten bei Wöhrd. Zu den zuziehenden Firmen zählte die Fertigung von Feuerspritzen und Brandschutzgeräten von Justus Braun, der seinen Betrieb von der Innenstadt an die Fabrikstraße verlegte. Anfang der 1880er Jahre folgte unter anderem die Spielwarenfabrik von Ernst Plank, die in die Cramer-Klett-Straße 19 verlegt wurde. Bereits 1862 nutzte der Erlanger Brauereibesitzer Heinrich Henninger die großzügigen Baulandreserven nördlich von Wöhrd und errichtete die „Nürnberger Aktienbrauerei“ an der Bayreuther Straße, allerding schon in der Gemarkung Rennweg. Ebenso deckte die Goldgespinst-Fabrik F. Scheiblein & Sohn hier ihren Raumbedarf.

Im Zuge der Hochindustrialisierung erschöpften sich die Platzreserven von Wöhrd und Gärten bei Wöhrd allmählich. Darüber hinaus hatte die Flusslage vor dem Hin-tergrund des wachsenden Einsatzes von Dampf- und Elektromotoren dramatisch an Bedeutung verloren. Nun boomte die Südstadt mit dem nahezu konkurrenzlosen Standortvorteil der Bahnhofsnähe.

Mit der Verlegung der MAN und dem Abbruch der Fabrikbauten veränderten die Stadtteile Wöhrd und Gärten bei Wöhrd nach 1900 abermals ihr Profil. Anstelle des ehemaligen Firmengeländes entstanden Wohnbauten für gehobene Ansprüche sowie eine Grünanlage an der Kesslerstraße. An die technikgeschichtliche Bedeutung Wöhrds knüpfte ab 1901 die Industrieschule als Vorläuferin der Georg-Simon-Ohm-Hochschule Nürnberg an. Und 1931 eröffnete die Stadt den Cramer-Klett-Park, nachdem Pläne für den Bau einer Stadthalle auf den ehemaligen Gartengrundstücken der Familien Tucher und Cramer-Klett nicht realisiert worden waren.

Als letzter Besitzer des Merkelschen Gartens bewohnte Senatspräsident Gottlieb von Merkel das Hauptgebäude bis zu seinem Tode 1903. Um 1869 war die von der Sulzbacher Straße zur Fabrikstraße beziehungsweise heutigen Georg-Strobel-Straße verlaufende Verbindung nach der Nürnberger Kaufmannsfamilie Merkel benannt worden. Zuvor waren die Namen Ampfergasse oder Ampfergraben in Gebrauch (10)

Nach dem Tod Gottlieb von Merkels boten 1905 dessen Erben das Anwesen der Stadt Nürnberg zum Kauf an. Der städtische Grunderwerbsausschuss begutachtete, 450.000 Mark zu bieten, da es sich hier „um eine besonders günstige Gelegenheit handelt, für die in der Gegend fast gar keine verwendbaren Flächen besitzende Stadtgemeine einen gut gelegenen, gut aufgeteilten und für alle öffentlichen Bedürfnisse ausreichenden Besitz zu erwerben, dessen Wert die Forderung und noch mehr das Angebot weit übersteige“ (11).

Plan des Merkelschen Gartens 1905. (Stadtarchiv Nürnberg)

Der Verkauf wurde am 5. September 1905 notariell verbrieft. Zunächst vermietete die Stadt die Anlagen. Zu den Mietern und Pächtern zählten Gärtner, aber auch Architekten und Künstler, die möglicherweise die lichten Räume im Obergeschoß als Atelier nutzten. Aber auch der städtische Oberingenieur Georg Kuch quartierte sich dort auf zwei Stockwerken ein.

Am 25. Oktober 1906 wurde als erstes Gebäude auf dem Gartenareal das Haus Fabrikstraße 19 auf Abbruch verkauft und zum 1. Januar 1909 kündigte der Stadtmagistrat die Mietverhältnisse an der Sulzbacher Straße 32. Den nördlichen Teil des Gartens veräußerte die Stadtgemeinde 1909 an den bayerischen Staat. Nach Abbruch der Gebäude wurde auf diesem Gelände 1909 bis 1911 das Melanchthon-Gymnasium erbaut.

Während die Decke des Großen Saales in den Neubau integriert wurde, gelangten daraus einige Ausstattungsstücke im Rokokostil wie 5 Spiegel, 1 Konsoltisch, 6 Wandfelder und Spiegel und 6 kleine Spiegel mit Wandleuchter in die städtische Kunstsammlung. (12)

Im südlichen Teil des Garten, getrennt durch die 1877 angelegte Nunnenbeckstraße, wurde bis 1914 zunächst die städtische Handelsschule für Mädchen errichtet. Nach deren Zerstörung im Zweiten Weltkrieg folgte 1966 der Neubau für die städtische Wirtschaftsschule.

Nimmt man nun etwa die Maria-Ward-Schule und die Georg-Simon-Ohm-Hochschule hinzu, könnte man sagen, dass Gärten bei Wöhrd und Wöhrd dem Gartenrefugium und dem Industrievorort im 20. Jahrhundert den Bildungsstandort als weiteres Identitätsmerkmal ihrer Geschichte hinzugefügt haben.

von Martina Bauernfeind