Gliederung
Voraussetzungen
Das Sockelgeschoss mit Rustika
Das Hauptportal
Fünf Flachreliefs im Bogen des Hauptportals
Reliefköpfe
Das Schmuckrelief an der Westseite des Eckrisalits
Die Wölfin als Dachbekrönung
Die Schülersternwarte
Die Turnhalle
Die Innengestaltung des Schulhauses
Das Vestibül und das Treppenhaus
Kurz vor dem ersten Weltkrieg war das humanistische Gymnasium als Bildungseinrichtung äußerst umstritten. In einem Zeitalter, in dem man technische und naturwissenschaftliche Bildung als Grundkompetenzen zu einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ansah und moderne Fremdsprachen zur Förderung der Wirtschaftsbeziehungen ins europäische Ausland erlernte, empfand man die humanistische Erziehung als reaktionär und behindernd. Darüber hinaus betrachtete man Altphilologen und deren auf das Geistes- und Kulturleben der Römer und Griechen fokussierte Erziehung als Verräter am deutschen Geist.
Philipp Thielmann, der Rektor des Alten Gymnasiums Nürnberg begrüßte anlässlich der Einweihungsfeier des Schulgebäudes im April 1911 die anwesenden Gäste deshalb mit folgenden Worten:
„Die gegenwärtige Zeit ist dem humanistischen Studium, dem Studium der alten Sprachen und ihrer Literaturen nicht besonders hold. Die Bedeutung der neueren Sprachen ist zugleich mit der Geltung der modernen Kultur gewachsen. Es sind besonders die Naturwissenschaften (…) zu so überragender, unser ganzes Leben beherrschender Bedeutung gelangt, daß die Antike in ihrem stillen, geräuschlosen, aber gleichwohl für unsere moderne Kultur durch nichts zu ersetzenden Werte im lauten Kampfgeschrei des Tages einen schweren Stand hat.“[16]
Im Kreuzfeuer dieser Vorwürfe versuchten sich die humanistischen Bildungstheoretiker zu rechtfertigen und besser zu positionieren: Eine deutsch-nationale Erziehung wäre durchaus mit dem humanistischen Erziehungsideal in Einklang zu bringen, da das geistige Leben des deutschen Volkes auf die Beschäftigung mit der Antike angewiesen sei. Diese sei die Rüstkammer für die Erlangung eines wahrhaft nationalen Staates. Auch seien die drei Völker Griechen, Römer und Germanen in ihrer Kultur nahe verwandt. [17]
Dieses deutsch-nationale „humanistische“ Programm fand seinen Niederschlag nicht nur in den Lehrinhalten im Schulalltag, sondern auch in der architektonischen und skulpturalen Ausformung des Schulneubaus in Nürnberg. Neben der Darstellung des Gebäudezwecks war die Umsetzung erzieherischer und kulturgeschichtlicher Inhalte in der Fassadengestaltung von Behördenbauten allgemein üblich. Im Handbuch der Architektur von 1889, das sich mit dem Schulhausbau beschäftigt, wird angeführt, dass „eine künstlerische Durchbildung der Bauformen des Schulhauses, im Äußeren und im Inneren, nicht nur als zulässig, sondern als gerechtfertigt und sogar als geboten angesehen werden möge.“[18] Die Kinder sollen den Sinn für das Schöne aus der Schule mit nach Hause nehmen und mit sich in das Leben tragen.
Der Eckrisalit an der Sulzbacher Straße, der als typischer Gebäudeteil des Neobarocks über die Flucht der anderen Bauteile vorkragt, nimmt eine Gelenkfunktion zwischen den beiden Flügeln ein und ist als Hauptbaukörper ausgewiesen. Seine Fassade ist im gesamten Sockelgeschoss mit einer Rustika bedeckt, die sich in verminderter Höhe auch um das ganze Gebäude zieht.
Eine Rustika ist ein Mauerwerk aus Bruch- und Buckelsteinen. War sie noch in Antike und im Mittelalter zweckmäßig und diente der Verteidigung des Gebäudes, besaß sie spätestens ab der Renaissance nur noch einen ästhetischen Reiz und sollte nun symbolisch das Wehrhafte und Widerstandsfähige des Gebäudes und seiner Bewohner betonen.
Die aus Rothenburger Muschelkalk geschlagenen Bossen, so nennt man die einzelnen Steine, sind sehr wuchtig und grob behauen. Eine extreme Betonung des untersten Geschosses des Gebäudes ist die Folge.
Eine Rustika hat zunächst eine optische Funktion, d.h. oben und unten deutlich zu machen. Die Rustika liefert einen soliden Unterbau für das auf ihr lastende Mauerwerk und Dach. Darüber hinaus transportiert sie aber noch andere Aussagen. Sie stellt durch die Übernahme eines ursprünglich antiken Motivs den hoheitlichen Anspruch der humanistisch-klassischen Bildung heraus. [19] Zudem erweckt die Rustika Assoziationen zum Sockelgeschoss einer Trutzburg oder einem Felssockel. Ebenso fest verankert wie dieser und mit dieser Verteidigungsmauer gegen alle Angriffe gerüstet, sieht sich das humanistische Gymnasium. Der ungebändigten Rustika an der Außenfront der Schule, ist das „Heiligtum“ im Innern entgegengesetzt, das es zu verteidigen gilt. Hier befindet sich nämlich das Vestibül, das als griechischer Tempelaufgang gestaltet ist.
Sämtlicher figürlicher Schmuck an der Fassade des Gebäudes stammt im Modell von dem damals bekannten Münchner Bildhauer Max Heilmaier (1869 – 1923). Er war seit 1907 Professor für figürliches Modellieren an der Kunstgewerbeschule in Nürnberg.[20]
Das Hauptportal ist von einem breiten Halbrundbogen mit vorspringender Rustikarahmung umgeben. Den Schlussstein dieser Rahmung bildet als Hinweis auf den Bauherrn das sehr groß dimensionierte bayerische Staatswappen, wie es von 1835 bis 1923 verwendet wurde.[21] Als Schildhalter fungieren zwei junge Krieger in antikisierenden Lederröcken, die auf Hippokampen, Fabelwesen, die halb aus einem Pferd halb aus einem Fisch bestehen, stehen. Bekrönt wird das Wappen von der bayerischen Königskrone, als Postament fungiert ein Maskaron in Form eines Löwenkopfes als Hinweis auf den bayerischen Löwen. Der Bauherr macht hier deutlich, wer das Sagen hat.
Fünf Flachreliefs, die Hinweise auf die Disziplinen der Erziehung und Bildung geben, umziehen leicht zurückversetzt die Rundung des Torbogens.
Im Mittelfeld an höchster Stelle befindet sich eine Orans, eine Betende, in der dafür typischen Armhaltung. Diese Armhaltung, die auf die Kreuzform verweist, war v.a. in frühchristlichen Darstellungen gebräuchlich. Die unübliche kniende Position der Orans ist wohl der geringen Höhe des Wandfelds geschuldet. Sie trägt ein antikisierendes Gewand, einen Chiton mit Überwurf, dessen Ende über ihre Hüfte gelegt ist. Es handelt sich um die Personifikation der Religion, die im Hinblick auf die allgemein-menschliche Bildung den wichtigsten Platz im Reigen der Schulfächer einnimmt. Im linken oberen Zwickel ist das Auge Gottes eingepasst, im rechten die Sonne. Unter dem Auge Gottes ist eine öde Landschaft zu sehen, unter der Sonne befindet sich ein Baum mit dreiseitigen Blättern, der wohl als Lebensbaum zu verstehen ist.
Im für den Eintretenden rechten Wandfeld neben der Religion und dem Lebensbaum liegt eine ältere Dame, die ebenfalls mit einem Chiton mit Überwurf bekleidet ist. Sie verhüllt damit ihren Kopf, wie es sich in der Antike für eine vornehme Frau der höheren Gesellschaft gehörte. Als Attribut ist ihr eine Schriftrolle beigefügt, in ihrer rechten Hand hält sie einen Griffel. Beides deutet auf die Gelehrsamkeit hin und damit auf die Bildung durch klassische Sprachen. Die Eule im Zwickel ist das Symbol der Weisheit. Im Hintergrund befinden sich Bäume von niedrigem Wuchs, die mit vielen, prallen Pinienzapfen dicht besetzt sind. Die Zapfen der Pinie sind ein christliches Symbol für die Auferstehung und für die Unsterblichkeit. Denn die Zapfen tragen eine Vielzahl von Samen unter ihren Schuppen, die das Fortbestehen und eine weite Verbreitung der Pflanze garantieren und damit die Unsterblichkeit der klassischen Sprachen gewährleisten.
Links vom Mittelfeld liegt ebenfalls eine weibliche Figur, die nur mit einer einfachen Tunika bekleidet ist. Sie trägt wallendes, offenes Haar, was sie als junge Frau kennzeichnet, aber auch als eine, die ihre sittlichen Grenzen nicht wahrt. Sie hält einen Polyeder und einen Zirkel in der Hand und stellt somit die Naturwissenschaften dar. Die Figur liegt in dichten, wuchernden Ranken mit beerenähnlichen Früchten. Es ist offensichtlich, dass die Auswahl und Symbolik der Pflanze auch hier Rückschlüsse auf die Personifikation zulassen. Beerenpflanzen werden in der christlichen Ikonographie als Symbol der Weltlust und Verlockung angesehen. Die liederliche junge, einfach gekleidete Frau, die mit Zirkel und Polyeder hantiert, würde damit also indirekt durch die ikonographische Bedeutung dieser Pflanze auf einen minderen Platz in der Rangfolge der Schulfächer verwiesen. In diesem Sinne kann man auch die Schlange, die sich im Zwickel hinter der Frau eingerollt hat, deuten. Sie gilt als ambivalentes Symbol, ist hier aber negativ zu verstehen. Sie verweist mit ihrem zur Religion gewandten Kopf auf den Sündenfall.
Dieser Wertung der Schulfächer kann man eine weitere Beobachtung hinzufügen, die dem Konflikt der Vorrangstellung der klassischen Sprachen vor den Naturwissenschaften noch mehr Nachdruck verleiht:
Die beiden Türflügel, die sich direkt unter den Flachreliefs befinden, waren mit besonderen, heute verlorenen Türklinken ausgestattet. Die rechte Klinke unter der Darstellung der Gelehrsamkeit, also der alten Sprachen, zeigte eine Personifikation der Weisheit. Die linke unter den Naturwissenschaften ein Schaf als die der Dummheit.[22] Sie geben dem Eintretenden bereits einen Hinweis darauf, dass der richtige, also der rechte Türflügel zur wahren Gelehrsamkeit führt.
Die Fächer Musik und vor allem gymnastische Übungen bzw. Turnen nahmen um die Jahrhundertwende einen enormen Aufschwung.[23]
Ein Knabe mit antikisierendem Kurzgewand und Riemchensandalen befindet sich im untersten Feld auf der rechten Seite unter den alten Sprachen. Er trägt den Petasos, einen Hut, den man in der Antike auf dem Land oder in freier Natur zum Schutz vor der Sonne trug. Die Figur trägt eine Lyra, die mit Riemen am linken Handgelenk befestigt ist, so aber nicht funktionieren kann, denn ein freies Schwingen der Saiten ist nicht möglich. Sie personifiziert das Unterrichtsfach Musik. Im Hintergrund ist ein Eichenbaum als Symbol für die Beständigkeit eingefügt, dessen Stamm in der christlichen Symbolik als Material gilt, das nicht verwittert. Mehrere Tiere sind um die Figur gruppiert. Sie fungieren als Anspielung auf den Orpheus-Mythos: Die Bäume neigen sich Orpheus zu, wenn er spielt und die wilden Tiere scharen sich friedlich um ihn.
Als Gegenstück zur Musik ist die Leibeserziehung oder das Turnen in das Bildprogramm des Portals aufgenommen. Es befindet sich auf der linken Seite unter dem Schulfach Naturwissenschaften. Dargestellt ist ein junger Mann mit dem schon erwähnten Petasos auf dem Kopf. Er hält einen langen Stock in den Händen, der wahrscheinlich zum Springen verwendet werden sollte. Den Hintergrund bilden Weinranken mit Trauben. Im Blattwerk tummeln sich Tiere, vor allem Eichhörnchen. Die Platzierung der Personifikation des Turnens weist sie eindeutig als minderes Schulfach aus, da die sportliche Betätigung in der humanistischen Erziehung zwar als physisch notwendig, nicht aber als bildungsrelevant angesehen wurde.
Zwischen der Rustikazone und ersten Obergeschoß ist am Eckrisalit eine Attikazone ausgebildet, an der zu beiden Seiten Reliefköpfe angebracht sind.
Zunächst waren für die Fassade am Eckrisalit acht überlebensgroße, freistehende Figuren geplant, auf die jedoch im Baufortgang aufgrund des geringen Budgets verzichtet werden musste.[24]
Zur Ausführung kamen schließlich in der Attikazone acht Reliefköpfe mit rahmenden symbolhaft figürlichen Gestalten. Die Köpfe selbst sind herb, fast grob gestaltet, zeichnen sich aber durch einen „heroischen“ Ausdruck aus: ernste Gesichtszüge, weit geöffnete, starre Augen, die in die Ferne zu blicken scheinen.
Als Folge der Entscheidung für ein moderneres Bildungsziel des humanistischen Gymnasiums findet im Bildprogramm die Suche nach nationaler Identität in der deutsch-germanischen Vergangenheit ihren Niederschlag. Die völkisch orientierte Öffentlichkeit sollte von der nationalen Bedeutung des humanistischen Gymnasiums überzeugt werden: Über dem Hauptportal an der Sulzbacher Straße, also an herausragender Stelle des Gebäudes, befinden sich vier „Heroen“ der deutsch-germanischen Welt, nämlich Schiller, Goethe, Arminius und Wodan.
An der östlichen Seite des Eckrisalits ist der Kopf Friedrich Schillers mit den Rahmenfiguren Wilhelm Tell und einem Glockengießer angebracht. Der Wiedererkennungswert des Kopfes ist – wie bei allen anderen Reliefköpfen auch - gewährleistet. Sie sind nach allgemein bekannten Büsten der Dargestellten modelliert. Für Schillers Kopf ist die Büste von Johann Friedrich Dannecker (1814) Vorlage gewesen.
Ab 1871, dem Zeitpunkt der Bildung Deutschlands zum Nationalstaat, setzte verstärkt eine öffentliche Schiller-Verehrung ein. 1905 hatte man den 100. Todestag Schillers überall im Reich mit großen Feierlichkeiten begangen. Ein im selben Jahr im Nürnberger Stadtpark gelegter Grundstein wurde im Jahr 1909 mit einem Schillerdenkmal gekrönt. Die Schillerlektüre war im Laufe des 19. Jh. im Unterricht zur Pflicht geworden. Schiller wurde als eisernes kulturelles Kapital der Nation – unabhängig von seinem auch kritischen Werk - vereinnahmt und zu einem der Großen Deutschen ernannt. Er wurde nationalisiert und idealisiert. Die Rahmenfiguren spielen auf die beiden Werke an, die zur Pflichtlektüre des Deutschunterrichts gehörten: „Wilhelm Tell“ und „Die Glocke“.
Der westlich anschließende Kopf stellt Johann Wolfgang von Goethe mit zwei antiken Knabenfiguren dar. Er ist nach der Büste von Christian Daniel Rauch (1820) angefertigt. Einen ähnlichen Prozess wie die Schiller- durchlief auch die Goetheverehrung. Auch Goethe wurde weniger aus Interesse an seinem Werk als an seinem reichen Leben verehrt. Der Goethekult erreichte während des Kaiserreichs seinen Höhepunkt. Der Begriff vom „Olympier Goethe“, in dem sich der Wunsch nach vorbildhafter Größe spiegelt, wird zu dieser Zeit geprägt.[25]
Arminius assistiert von zwei Bewaffneten, wohl einem Germanen und einem Römer setzt die Reihe nach Westen fort. Arminius bzw. Hermann war ein Cheruskerfürst, der im Jahr 9 n. Chr. in der Varusschlacht den Römern mit der Vernichtung von drei Legionen eine verheerende Niederlage beibrachte. Er galt im zeitgenössischen Denken als der Befreier Deutschlands und damit als Gründungsvater der Nation. Durch ihn wurde die nationalkulturelle Einigkeit der Deutschen gesichert. Bereits 1875 wurde er mit der Fertigstellung des Hermanndenkmals im Teutoburger Wald zur nationalen Mythos- und Symbolfigur erhoben. Konsequenterweise müssten beide Rahmenfiguren des Arminius-Kopfes Germanen darstellen, denn Arminius kämpfte als Anführer der Germanen gegen die Römer. Diese Darstellung wäre aber für das Bildprogramm eines humanistischen Gymnasiums kontraproduktiv, wollte man doch gerade auf die Gemeinsamkeiten mit der römischen Kultur hinweisen.
Der letzte Reliefkopf am Eckrisalit der Schule Richtung Sulzbacher Straße stellt Wodan dar. Er war die mächtigste germanische Gottheit, der der Legende nach seine Weisheit zwei Raben namens Hugin und Munin verdankte. Sie saßen – wie hier abgebildet - auf seinen Schultern und berichteten ihm alles, was auf der Welt geschah. Er trägt einen Flügelhelm, wie es auch einige antike Götter tun. Damit wird auf die Gleichwertigkeit des germanischen und antiken Götterhimmels verwiesen. Allerdings wird diese Gleichwertigkeit sofort relativiert. Denn der erste und nördliche Reliefkopf an der Merkelsgasse stellt Zeus dar, der als klassischer Heros in die zweite Reihe hinter die oberste germanische Gottheit gesetzt wird.
Zeus wird von Ganymed und einem Adler flankiert. Der Jüngling Ganymed, der sich durch besondere Schönheit auszeichnete, wurde von Zeus in Gestalt eines Adlers auf den Olymp entführt. Dort diente er als Mundschenk der Götter. Die seit dem Mittelalter gebräuchliche Deutung der Figur setzt Ganymed in Beziehung zu Johannes, dem Evangelisten. Der Knabe steht für die menschliche Seele, die durch den Adler zur himmlischen Erkenntnis geführt wird. Überträgt man diesen Inhalt auf den Bildungsauftrag der Schule, würde das bedeuten, dass das Studium der antiken Sprachen und der Literatur einem förmlich Flügel verleiht und zu „göttlicher“ Erkenntnis führt.
Der Reliefkopf Homers mit seinen Rahmenfiguren Odysseus und Achill verdeutlicht, dass Homer nicht als großer Dichter des Abendlandes gefeiert wird, sondern als Schöpfer dieser beiden Helden. Sie versinnbildlichen die klassischen Heldentugenden wie Vaterlandssinn, Mut, Verantwortung für die Gemeinschaft und Opferbereitschaft, also die Bereitschaft für das politische Gemeinwesen zu kämpfen und dafür zu sterben. Diese Tugenden sollten selbstverständlich auch den deutschen Helden auszeichnen und werden hier ins Gedächtnis gerufen.
Sokrates flankiert von zwei Eulen wird an der Fassade aufgrund seiner Biographie gewürdigt, die ihn als einen unbeugsamen Verfechter einer Lehre, für die er sogar gefasst den Tod durch den Schierlingsbecher in Kauf nimmt, ausweist. Hugo Steiger, Direktor des Alten humanistischen Gymnasiums, schrieb 1926 in der Festschrift zur 400 Jahr-Feier der Schule: „Und wer das Leben und Sterben des Sokrates in der Darstellung Platons erlebt, der weiß, daß er den Gesetzen seines Landes unverbrüchlichen Gehorsam schuldig ist bis zum Tode.“ [26]
Der letzte Reliefkopf der Reihe stellt Caesar mit zwei Siegesgenien dar. Er wird als Kriegsheld und genialer Feldherr gefeiert. Die Römer und insbesondere Caesar konnten durch ihre Sprache und die dazugehörigen Texte als Muster für Ordnung, Disziplin und Pflichterfüllung gegenüber dem Staat interpretiert werden. Ab dem 19. Jh. wurde Caesar, der bis dahin nur eine untergeordnete Rolle in der Schullektüre gespielt hatte, zum wichtigen Schulautor und zur Identifikationsfigur des Lateinunterrichts. Einerseits waren dafür sprachliche Gründe ausschlaggebend, da er in seinem Bellum Gallicum nur einen überschaubaren, puristischen und für die Schüler leicht zu bewältigenden Wortschatz benutzt. Seine Werke konnten allerdings auch zur politischen Instrumentalisierung herangezogen werden, da das alles überragende Thema der Caesar-Lektüre der Krieg mit Gallien ist: Schüler sollten etwas von der weltgeschichtlichen Bedeutung der Unterwerfung Galliens und dem Kampf um die Rheingrenze verstehen lernen. Der Gegensatz zwischen römischer Kultur und germanischer Urkraft, der Bericht über deutsche Männer und Verhältnisse in alter Zeit sollten ihr nationales Interesse wecken.[27]
Als Bekrönung des Rundbogenfensters zur Halle des Treppenhauses ist ein dekorierter Schlussstein angebracht. Seitlich davon ist das Erbauungsjahr 1909-1911 eingemeißelt.
Die Mitte des Reliefs bildet ein sogenanntes Bukranion, ein Rinderschädel, ein seit der Antike gebräuchliches Schmuckmotiv. Dieses weist auf antike Opfertiere zurück und ist durch die Hörner als Symbol der Fruchtbarkeit und der Stärke zu werten. Die Früchte- und Blumenfestons sind Symbole für Überfluss. In diese Richtung weisen auch die beiden Putten und der Früchtekorb, der oben auf dem Schädel steht. Mit diesem Relief wird der Schule ein Segenswunsch ausgesprochen.
Die Wölfin auf dem kaminartigen Sockel auf dem Ostgiebel des Nordflügels bemisst sich auf ca. 1,50 x 2,20 m. [28] Sie ist also doppelt so groß wie das Original [29], die sog. Kapitolinische Wölfin, die (kontrovers diskutiert) in das 5. Jahrhundert v. Chr. datiert wird.
Die Wölfin ist als Symbolfigur des humanistischen Gymnasiums zu verstehen, da sie in der römischen Geschichte Romulus und Remus nährte und damit zur Gründung der antiken Stadt beitrug. Wenn der Journalist der Nürnberger Stadtzeitung, der 1911 einen Artikel über den Neubau verfasste, schrieb: „Schon von weitem leuchtete uns hoch oben auf dem First im goldenen Sonnenschein die (…) kapitolinische Wölfin entgegen.“[30], dann kann man dem nach Lektüre der Archivalien zum Schulneubau nur zustimmen. Denn laut einer Rechnung im Staatsarchiv Nürnberg war die Wölfin damals vergoldet bzw. golden gestrichen.[31]
Das Mansarddach des Hauptbaukörpers ist von einem großen Dachreiter bekrönt, in dem sich eine Sternwarte befindet und auf dessen kupferner Kuppel eine große geschmiedete Armillarsphäre angebracht ist. [32] Dieses astronomische Gerät, das die Darstellung der Bewegung von Himmelskörpern ermöglicht, wurde im 15. Jh. durch den in Nürnberg ansässigen Astronomen Regiomontanus wieder bekannt gemacht und auch hier hergestellt. Bereits das Schulgebäude am Egidienberg war mit einer solchen geschmückt.
Die Sternwarte am Schulgebäude war eine Weiterentwicklung der in Nürnberg bei Schulen gebräuchlichen „Ventilationstürme“[33], mit denen die Klassenzimmerbelüftung geregelt wurde. Ein solcher Ventilationsturm befand sich bis zum Jahr 1945 auch auf dem zweiten Risalit der Schule in der Merkelsgasse. Die Melanchthon-Sternwarte war mit einem umlaufenden Zahnkranz versehen, der es möglich machte, die Kuppel mit einer Handkurbel einen Spalt zu öffnen und das Dach zu drehen.[34] Im Jahr 1916 wurde im Innenraum ein achteckiges Podium errichtet, auf dem das Teleskop stehen sollte.[35] Dieses wurde im Juni 1916 genehmigt und erworben. [36]
Sternwarte und Wölfin setzen auf dem Dach des Flügelbaus an der Sulzbacher Straße zwei nachdrückliche und gleichberechtigte Akzente. Die „Alma Lupa“, deren Zitzen prall gefüllt sind, steht für die Schule, die ihre Knaben mit dem rechten Wissen und Bildung nährt. Eben diese Zitzen hielt man übrigens 1911 in einem Artikel des Fränkischen Kuriers für einen „unästhetischen Anblick und pädagogisch bedenklich“.[37]
Die Sternwarte mit Armillarsphäre als Pendant zur Wölfin verweist einerseits zurück auf eine Zeit, in der Nürnberg eine Hochburg der naturwissenschaftlichen bzw. astronomischen Forschung war. Andererseits war der Einrichtung von Sternwarten und der Beschäftigung mit Himmelskörpern insbesondere der Astrophysik gerade um die Jahrhundertwende eine Blüte beschert. Man demonstrierte mit der einzigen Schülersternwarte in Nürnberg also auch hohe Aktualität und Modernität. Freilich funktionierte die Sternwarte nie richtig. Bereits im Jahr 1911 berichtete ein Journalist der Nürnberger Stadtzeitung, der das Gebäude kurz vor der Einweihung besichtigt hatte, dass „die ganze Geschichte auf dem hohen Holzgerüste des Daches viel zu zittrig ist; zu einer Sternwarte gehört fester Boden“.[38]
Die Turnhalle der Schule schloss sich dem Westflügel an der Merkelsgasse über einen überdachten Durchgang unmittelbar an.
Die Fassade und das Dach mit den Fledermausgaben sind dem Hauptschulgebäude verwandt, jedoch waren im ersten Obergeschoss dreigeteilte Rundbogenfenster eingeschnitten. Dreiteilige Ornamentfelder, die an den Jugendstil erinnern, schmückten die Fassade. Am Traufgesims befanden sich Maskaronen, eventuell Wolfsköpfe, die teilweise als Wasserspeier gestaltet waren. Die Giebel waren mit großen Eckvoluten versehen. Auf die Turnhalle war man sehr stolz, da sie die im Zeitgeist hoch geschätzte körperliche Ertüchtigung vor Ort bei jedem Wetter möglich machte. Die Turnhalle wurde bei einem Bombenangriff im August 1943 schwer getroffen und im Januar 1945 ganz zerstört.
Westflügel mit Turnhalle zur Sulzbacher Straße:
Als man im Jahr 1909 mit der Planung des Vestibüls und des Treppenhauses begann, war das Budget des Schulneubaus bereits sehr knapp bemessen. Trotzdem plante der Architekt Jakob Pfaller, der die Arbeiten im selben Jahr nach dem Weggang Ludwig Ullmanns übernommen hatte, ohne Einschränkungen.
Er verteidigte seine Mehrausgaben in München mit dem Argument, dass man bei einem so vornehmen Gebäude mit monumentaler Ausbildung „ohne künstlerischen Missklang nur schwer zu einer einfacheren Wirkungen (hätte, d. V.) übergehen können“.[39] Das Treppenhaus sei zudem einer sehr starken Abnutzung unterworfen. Zusätzlich mussten noch Ziergitter an den Seitenwänden der Treppenpodeste angebracht werden, da diese sonst zu dunkel geworden wären.
Das Staatsministerium des Innern reagierte sehr ungehalten und rügte den Architekten. Man führte an, dass die „Verschönerungen des Innenausbaus (…) das Maß der Ausstattung einer Mittelschule weit überschreiten, und geeignet sind, zu abfälligen Kritiken über die Staatsbauverwaltung in der Öffentlichkeit Anlaß zu geben.“[40]
Das Resultat ließ sich auf jeden Fall sehen. Vestibül und Treppenhaus wurden großzügig mit grünem Treuchtlinger Marmor ausgestattet, der so dick ist, dass dieser selbst 100 Jahre und zahlreiche Bombenangriffe während des 2. Weltkrieges ohne größere Blessuren überstanden hat.
Das Vestibül ist dem Eingangsbereich eines griechischen Tempels nachempfunden. Strenge und eine fast sakrale Ausstrahlung zeichnen diesen Übergangsbereich zwischen der belebten Sulzbacher Straße und dem Herz der Schule, dem Haupttreppenhaus, aus. Dieser Durchgangsbereich wird als Ort der Sammlung und der Einstimmung gedacht gewesen sein.
Die Strenge des Treppenhauses wird durch die Ausstattung mit Ziergittern mit Spiralornamenten gemildert. Trotzdem ist man sich auch hier des monumentalen und sakralen Charakters des Raumes bewusst.
Treppenhausplan 1911, Hochbauamt Nürnberg: