Lobrede auf die neue Schule

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Lobrede auf die neue Schule

In laudem novae scholae 1
übersetzt von Dr. Hermann Lind

Am 18. Oktober 1524 beschließt der Nürnberger Rat die Gründung einer neuen Schule.2 Als von der Stadt besoldeter Rektor ist Philipp Melanchthon vorgesehen. Dessen ehemaliger Schüler in Wittenberg, der Patrizier Hieronymus Baumgartner (1498-1565), soll in einem Brief an ihn den Wunsch des Rates vortragen. Martin Luthers Aufforderung aus diesem Jahr 1524 „An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ stieß in Nürnberg auf günstige Bedingungen: Hatte doch hier der Humanismus nicht nur in der Person Willibald Pirckheimers (1470-1530) schon lange Fuß gefasst, vollzog sich doch hier 1524/5 die schrittweise Einführung der Reformation.


Melanchthon lehnt im Januar 1525 den Ruf ab, bietet aber seine Hilfe bei der Auswahl geeigneter Professoren an. Auf die Bitte des Rates um Ausarbeitung einer neuen Ordnung für die geplante Schule (16.9.1525) kommt Melanchthon im November in Begleitung seines Freundes, des Gräzisten Joachim Camerarius (1500-1574), den er als Schulleiter empfiehlt, nach Nürnberg und legt seinen Plan für die „obere Schule“ (ratio scholae Norembergae, 1526 anonym erschienen) vor, der sich am Lehrstoff der Artistenfakultäten, ergänzt durch Griechisch, orientiert. Als Räumlichkeit für die neue Schule, deren Bildungsprogramm die Lücke zwischen den eher bescheidenen Lateinschulen (Trivialschulen3) und den Universitäten schließen soll, ist das im Juli 1525 der Stadt vom Abt übergebene ehemalige Kloster St. Egidien vorgesehen.

Die Einladung der Stadt (27.2.1526), zur Eröffnung der Schule zusammen mit seiner Frau für einige Tage erneut nach Nürnberg zu kommen, nimmt Melanchthon an. Am 22. Mai 1526 informiert der Rat alle Bürger über die Eröffnung der Schule und fordert sie auf, begabte Kinder auf Kosten der Stadt in die neue Schule zu schicken. Einen Tag später, am 23. Mai, wird die Schule in St. Egidien durch eine Festrede Philipp Melanchthons feierlich eröffnet.4

Anwesend sind neben den Mitgliedern des Rates, den Predigern und den gebildeten Bürgern der Stadt auch die von Melanchthon vermittelten Lehrer: der 26jährige Joachim Camerarius (Kammermeister, aus Bamberg) als Rektor und Griechischlehrer, der bekannte Dichter (Luther: „rex poetarum“) und Humanist Eobanus Hessus (Koch, 1488-1540, zuvor Lateinprofessor in Erfurt) als Lehrer für Latein und lateinische Dichtung, Michael Roting (1494-1588) als Lehrer für Rhetorik und Dialektik sowie Johannes Schöner (1477-1547) als Lehrer für Mathematik.5

Rede Philipp Melanchthons zum Lob der neuen Schule, gehalten in Nürnberg vor den gebildeten Bürgern und dem versammelten Rat (23. Mai 1526)

Euch, euren Kindern und dem gesamten Gemeinwesen Glück und Segen! Hochgeehrte Herren, eurem Wunsch gemäß eröffnen diejenigen Männer die Schule, die ihr durch öffentlichen Beschluss hierher berufen habt, um ehrwürdige Fächer6 zu unterrichten. Ich soll es euch durch meine Stimme verkünden. Denn da es ja auf der Bühne des Theaters üblich ist, dass sich der Prolog vor der eigentlichen Handlung zu der Absicht des Dichters oder auch zum Inhalt des Schauspiels äußert, so haben mich diese Männer hier unter Berufung auf die Freundschaft, die zwischen ihnen und mir schon sehr lange besteht, aufgefordert, ich solle zu dem Schauspiel, das von ihnen selbst aufzuführen ist, gewissermaßen den Prolog sprechen. Ihrem Willen nicht nachzukommen, stand mir nicht frei, obgleich mir mein Beginnen als Anmaßung ausgelegt werden konnte. Denn ich könnte ja den Eindruck erwecken, als schnappte ich die Hauptrolle beim Reden den beinahe redegewaltigsten Männern weg. Aber auch mit einem gewissen Risiko für mich selbst musste ich den mir sehr verbundenen Freunden gehorchen und diese Rolle übernehmen, die ich mir nicht selbst angemaßt habe, sondern die mir jene kraft ihrer Befugnis auferlegten.

Da es aber bei diesem Anlas erforderlich ist, dass wir euren Plan würdigen, den ihr im Hinblick auf die Gründung dieser Schule in Angriff genommen habt, so wünschte ich mir, dieser Auftrag würde von Redegewandteren ausgeführt, die angesichts ihres Ansehens in der Lage wären, diesen Plan ins rechte Licht zu setzen und der Bedeutung des Unternehmens in ihrer Rede gerecht zu werden. Denn angesichts meiner schwachen rednerischen Fähigkeiten muss ich fürchten, dass ich aufgrund meiner mangelhaften natürlichen Begabung eure Verdienste schmälere, die einer keineswegs gewöhnlichen, ja beinahe schon göttlich zu nennenden Weisheit entspringen. Dass ihr nämlich die Bedeutung und den der Masse unbekannten und sehr weit jenseits des Blickfeldes der Menge gelegenen Nutzen der <antiken> Literatur und der Wissenschaften erkannt habt, dass ihr entschieden habt, dass diese bewahrt und dem Untergang entrissen werden müssen, zumal in dieser Zeit, in der wir überall Gefahren ausgesetzt sind, dies ist in der Tat Zeichen einer geradezu göttlichen Weisheit.

Was anders nämlich verschafft denn dem gesamten Menschengeschlecht größere Vorteile als die Wissenschaften? Keine Kunst, kein Handwerk, wahrhaftig auch kein landwirtschaftliches Produkt, ja sogar nicht einmal die Sonne, die viele für die Urheberin des Lebens gehalten haben, ist in dem Grade notwendig wie die Kenntnis der <antiken> Literatur und der Wissenschaften. Weil ohne Recht und Gesetz und ohne Religion weder staatliche Gemeinschaften aufrechterhalten noch Vereinigungen von Menschen zusammengeschweißt und regiert werden können, wird das Menschengeschlecht nach Art wilder Tiere umherstreifen, wenn die Wissenschaften untergehen. Denn durch sie werden gute Gesetze hervorgebracht und gute Sitten sowie Menschlichkeit geboren, durch die die Religion bis in unsere Zeit hinein fortgepflanzt worden ist und andauert.

Sollte jemand meine Worte unglaubwürdig finden, so mag er die Sitten und die Lebensweise derjenigen Völker betrachten, die keine Wissenschaften kennen, wie man es sich von den Skythen erzählt: Diese haben keine durch Gesetze geordneten Staaten und keine Rechtsprechung. Als Recht gilt, was immer auch diejenigen getan haben, die entweder durch ihre Körperkraft oder durch ihre Anhängerschaft am mächtigsten sind. Nach außen hin gibt es keinerlei Handelsverbindungen mit den Nachbarn, keinerlei Austausch von Gütern. Das einzige Mittel gegen den Hunger ist für viele, als Räuber umherzuziehen, ja man erzählt sich, dass sie sich sogar vom Fleisch der Fremden ernähren. Innerhalb der Familie aber gibt es nicht nur keinerlei Zucht und Ordnung, sondern sogar die Empfindungen, die die Natur in gleicher Weise in den Herzen der Menschen entfacht hat - Treue zwischen den Ehepartnern, Liebe zu den Kindern sowie innige Verbundenheit mit den Verwandten und Freunden - wurden durch barbarische Sitten ausgelöscht. Es gibt bei ihnen keine Kenntnisse über die Kindererziehung, ohne die es doch keine tüchtigen Menschen geben kann. Es gibt keine Bewunderung der Tugend, keine Vorstellungen von Anstand und Sittlichkeit, keine durch ehrenvolle Verpflichtungen verknüpfte Freundschaften, keinerlei Gefühl für Menschlichkeit, es gibt schließlich keine richtigen Vorstellungen von Religion und von Gottes Wollen gegenüber den Menschen. Ganz von dieser Art sind die ungebildeten, barbarischen Völker, teils mehr, teils weniger unmenschlich, wobei sie gewissermaßen das unzivilisierte Leben von Kyklopen führen.

Denn da die Sitten der Völker notwendigerweise dann in Barbarei entarten, wenn sie nicht durch die <antike> Literatur und die Wissenschaften zu Sittlichkeit, Menschlichkeit und Frömmigkeit angetrieben und angeleitet werden, so ist von euch eben dadurch vortrefflich und weise gehandelt worden, dass ihr in eure Stadt die angesehenen Wissenschaften - die Ernährerinnen aller Tugenden - gerufen habt und darauf bedacht seid, sie nach Kräften zu schützen und zu bewahren. Überdies verdient gerade in diesen harten Zeiten euer Entschluss besonderes Lob, da nun die Gefahr droht, dass die Wissenschaften in den verhängnisvollen politischen Stürmen Schiffbruch erleiden. Denn durch Unwissenheit des Volkes veröden die Schulen. Einige törichte Prediger nämlich bringen es von den Wissenschaften ab. Viele von ihnen sind um ihren Bauch besorgt und verlegen sich auf einträgliche Gewerbe, nachdem sie die Hoffnung aufgeben mussten, sich von geistlichen Einkünften ernähren zu können, die sie als alleinige Belohnung für ihre Arbeit betrachteten. Wie wenige nämlich bewundern die Tugend so sehr, dass sie meinen, man müsse sich ihr ohne Bezahlung widmen!

Da nun die Wissenschaft in so großer Gefahr ist, hätte es sich gehört, dass alle Könige und Fürsten der Staaten den bedrohten Wissenschaften Beistand leisten. Aber unsere Kleinkönige sind oft so arg ungebildet, dass sie den Wert der <antiken> Literatur und der Wissenschaften nicht begreifen können. Oft sind sie so übel, dass sie meinen, es nütze ihrer tyrannischen Herrschaft, wenn alle Gesetze, die Religion und die öffentliche Erziehung ein für allemal beseitigt würden. Was soll ich erst über die Bischöfe sagen, die nach dem Willen unserer Kaiser sowohl die religiösen Angelegenheiten als auch die wissenschaftlichen Studien beaufsichtigen? Klöster und geistliche Stifte waren ja früher auch nichts anderes als Schulen. Damit die Lernenden reichlich Muße und Lebensunterhalt zur Verfügung hätten, wurden dort äußerst großzügige Einkünfte festgesetzt. Offenbar haben einst diese Menschen die Wissenschaften, besonders aber die theologischen, mit sehr großem Erfolg betrieben. Jetzt sehen wir aber, dass es nirgends gefährlichere Feinde der schönen Künste und Wissenschaften gibt als in den Klöstern und geistlichen Stiften.

In dieser bedrängten Lage also kam es euch in den Sinn, die aus ihren angestammten Wohnsitzen verbannten Wissenschaften gastfreundlich bei euch aufzunehmen und sie gleichsam zu euch nach Hause zu geleiten. Ihr sollt es nicht bereuen, dieses Schmuckstück den übrigen Kostbarkeiten eurer Stadt hinzugefügt zu haben, die schon bisher durch ihren Reichtum, ihre Bauwerke und die Fähigkeiten ihrer Handwerker in solcher Blüte stand, dass sie zu Recht mit jeder beliebigen der berühmtesten Städte des Altertums verglichen werden könnte. Auch hatte keine andere Stadt in Deutschland bis heute gelehrtere Bürger. Weil sie bei der Lenkung des Gemeinwesens die Kenntnisse der besten Wissenschaften anwandten, erreichten sie, dass diese Stadt alle übrigen Städte Deutschlands bei weitem überragt.

Wenn ihr aber nun hier eine Wohnstätte für die angesehensten Wissenschaften errichtet, so werden die Höhen eures Ruhmes noch unglaublich gesteigert werden. Denn wenn ihr damit fortfahrt, bei den Leuten das Interesse für das Lernen zu erwecken, dann werdet ihr euch hervorragende Verdienste zunächst um eure Vaterstadt, aber auch um Auswärtige erwerben. Wenn auf eure Veranlassung hin eure Jugend gut ausgebildet ist, wird sie eurer Vaterstadt als Schutz dienen; denn für die Städte sind keine Bollwerke oder Mauern zuverlässigere Schutzwälle als Bürger, die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen. Die Spartaner sagten, die Mauern müssten aus Eisen, nicht aus Stein sein7. Ich aber bin der Meinung, dass eine Stadt nicht so sehr durch Waffen wie durch Klugheit, Besonnenheit und Frömmigkeit verteidigt werden sollte. Sodann wird eure wohltätige Einrichtung auch auf das übrige Deutschland ausstrahlen, das allem Anschein nach - wenn nur Gott dem Unternehmen günstig gesonnen ist! - seine Jugend hierher zur Ausbildung und Unterweisung schicken wird und das diejenigen für ganz besonders geeignet zur Lenkung der Staaten halten wird, die in dieser Stadt gleichsam in spielerischem Wettkampf zur Tüchtigkeit erzogen und an sie gewöhnt worden sind. So wird der Name dieser Stadt, verbunden mit höchstem Lob und Ruhm, von den Gästen unter die Auswärtigen gebracht, und ihr werdet die von eurer wohltätigen Einrichtung überwältigten Herzen der Menschen an euch binden. Eine solche Meinung der Leute wird euch, wenn ich mich nicht täusche, mehr erfreuen als die Herrschaft über irgendwelche Gebiete.

Aber obwohl diese Stadt aufgrund ihrer vielen Vorzüge sogar mit Massilia und einigen anderen Städten des Altertums wetteifern könnte, ziehe ich es dennoch vor, euch nunmehr von denjenigen Städten Beispiele zum Vergleich vorzulegen, die man in unserer Zeit als blühend preist. Die größte Wohltat für ganz Europa hat kurz vor unserer Zeit die Stadt Florenz vollbracht, als sie zuerst die aus ihrer Heimat vertriebenen Professoren der griechischen Literatur und Wissenschaften bei sich einkehren ließ8 und sie nicht nur durch gastliche Aufnahme unterstützte, sondern ihnen auch wieder die Möglichkeit zu wissenschaftlicher Betätigung gab, nachdem sie sie durch Gewährung eines überaus großzügigen Lebensunterhalts zum Unterrichten ermuntert hatte. Im übrigen Italien beachtete niemand die aus Griechenland geflohenen Lehrer der Wissenschaften, und zugleich mit Griechenland hätten wir beinahe auch die griechische Sprache und Literatur verloren, wenn nicht Florenz die hervorragenden griechischen Gelehrten in ihrer unglücklichen Lage unterstützt hätte. Was ohne die Florentiner geschehen wäre, geschah mit der lateinischen Sprache, die, durch barbarische Ausdrücke verfälscht und verunreinigt, völlig verkam. Von der griechischen Sprache gäbe es nicht einmal mehr irgendwelche Spuren. Zugleich wären die schriftlichen Denkmäler unserer Religion untergegangen, und es könnte nach dem Verlust der griechischen Sprache niemand mehr auch nur die Titel der Bücher der Heiligen Schrift verstehen. Denn in Rom mussten jene Flüchtlinge erbärmlichen Hunger leiden, obwohl doch die päpstlichen Gelder eigentlich vorzugsweise für Menschen in Not und auch für solche Menschen hätten verwendet werden müssen, die durch ihre Beschäftigung mit den Wissenschaften der Religion einen Dienst erwiesen.

Von Theodoros Gaza9 - was für ein bedeutender Mann, bei Gott! - erzählt man: Als er dem Papst die von ihm ins Lateinische übertragenen Schriften des Aristoteles und des Theophrast anbot und sie ihm in Form eines recht aufwendig verzierten Buches überreichte, fragte der Papst, wie viel denn die Verzierung des Buches gekostet habe, und erstattete ihm nichts außer diesen Kosten. Für seine Mühen, die er bei der Übersetzung der sehr schwierigen Werke auf sich genommen hatte, wurde dem Autor kein Lohn gezahlt!10

Schon wegen des Beispiels für die Zukunft hätte ihm sogar für ein nicht in gleichem Maße nützliches Buch eine höhere Belohnung gegeben werden müssen. Aber auch die Nützlichkeit dieses Werkes konnte den Papst nicht dazu veranlassen, über einen üppigeren Lohn nachzudenken.

Nachdem aber die Wissenschaften wegen der wohltätigen Unterstützung durch die Florentiner wieder aufzuleben begannen, verbreitete sich von da an ihr großer Nutzen unter alle Völker. Überall wurden viele begabte Menschen dazu angeregt, sich mit hervorragenden Wissenschaften zu beschäftigen. Denn die Nachahmung der Griechen stachelte auch die der lateinischen Sprache mächtigen Menschen dazu an, diese Sprache zu erneuern, die beinahe völlig verfallen war. In den Städten wurden die öffentlichen Gesetze verbessert, ja es wurde sogar die Religion gereinigt, die zuvor am Boden lag, verdeckt und niedergedrückt durch das Geschwätz der Mönche. Mögen auch die Meinungen der Leute hierüber auseinandergehen, so meine ich dennoch, dass tüchtige Männer die Bedeutung und das Wesen der Religion richtiger durchschauen und in diesen Zeiten für unser Gewissen stärkeren Trost bereithalten, als ihn kurz vorher noch die Mönche spendeten. Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, dass sich Florenz um alle Völker hervorragende Verdienste erworben hat dadurch, dass es die <antike> Literatur und die Wissenschaften gleichsam aus dem Schiffbruch in den Hafen aufgenommen und so vor dem Untergang bewahrt hat.

Beschützt also auch ihr nach dem Vorbild dieser Stadt in diesen schlimmen Zeiten die schönen Künste, wo doch die Bischöfe, statt für die Wissenschaften zu sorgen, Krieg führen, wo die übrigen Fürsten meinen, dass diese Sorge ihrer nicht würdig sei, und wo ganz Deutschland in Aufruhr ist, zu den Waffen ruft und die Lage so ist, wie es in dem alten Vers heißt: „Die Weisheit wird aus unserer Mitte gejagt, mit Gewalt wird die Sache entschieden.“11

Diese Lage ist für unsere wissenschaftlichen Bestrebungen überaus hinderlich. Denn wenn - wie Cicero mit Recht sagt - im Kreise der Waffen die Gesetze schweigen12, um wie viel mehr müssen dann unsere Wissenschaften verstummen, die in friedlicher Ruhe geboren und genährt worden sind. In diesen Erschütterungen droht allen schönen Künsten und Wissenschaften der Untergang, sofern sie Gott nicht unterstützt und die Machthaber zur Einsicht kommen lässt, die wissenschaftlichen Studien zu erneuern. Ihr aber hört nicht auf, euer überaus ehrenvolles und heiliges Vorhaben mit Entschlossenheit zu verfolgen! Denn ihr könnt weder Gott einen gefälligeren noch eurer Stadt einen nützlicheren Dienst erweisen.

Da aber richtige Taten meistens von Neid verfolgt werden, so zweifle ich nicht daran, dass auch ihr mit ungerechten Urteilen bestimmter Leute werdet kämpfen müssen. Ein tatkräftiger Mann aber zeichnet sich dadurch aus, dass er den Neid auf seine richtigen Taten gleichgültig hinnimmt. Vielleicht müsst ihr euch auch mit anderen Schwierigkeiten auseinandersetzen, die eure Pläne für den weiteren Ausbau der Schule offenbar verzögern könnten. Diese werdet ihr aber bewältigen, wenn ihr daran denkt, dass ihr in dieser Angelegenheit den Willen Gottes erfüllt. Denn die Religion und die guten Gesetze können nicht überdauern, wenn ihr sie nicht mit Hilfe der Wissenschaften bewahrt. Außerdem fordert Gott, dass ihr eure Kinder zur Tugendhaftigkeit und Religiosität erzieht. Wer keine Mühe darauf verwendet, dass seine Kinder so gut wie möglich unterrichtet werden, handelt nicht nur pflichtvergessen gegenüber Gott, sondern verbirgt hinter einem menschlichen Aussehen seine tierische Gesinnung. Folgenden Unterschied hat die Natur zwischen Mensch und Tier gemacht: Die Tiere geben die Sorge für ihren Nachwuchs auf, sobald dieser herangewachsen ist. Dem Menschen machte sie es aber zur Pflicht, dass er die von ihm in die Welt gesetzten Kinder nicht nur in frühester Kindheit ernährt, sondern dass er - sobald sie herangewachsen sind - ihre Gesinnung zur Sittlichkeit hin ausbildet.

Daher besteht gerade in einer gut geordneten Bürgerschaft ein Bedarf an Schulen, in denen die Jugendlichen, die ja gewissermaßen die Pflanzschule der Bürgerschaft darstellen, ausgebildet werden können. Denn wenn einer meint, dass man ohne Unterweisung zu einer wirklichen Tüchtigkeit gelangen könne, so täuscht er sich gewaltig. Und keiner ist zur Leitung eines Staates hinreichend befähigt ohne Kenntnisse in denjenigen <antiken> Schriften und Wissenschaften, welche die ganze Methode enthalten, wie Gemeinwesen zu regieren sind.

Wenn ihr dies abwägt, werdet ihr euch weder durch Neid noch durch irgendwelche anderen Schwierigkeiten davon abbringen lassen, eure Mitbürger zum Lernen einzuladen. Was eure Professoren betrifft, so kann ich euch dies versichern, dass deren Gelehrsamkeit der von ihnen übernommenen Aufgabe gewachsen ist und dass sie ihr Amt mit größter Zuverlässigkeit ausüben werden. Ich bete zu Christus, daß er dem Beginn eures sehr schwierigen Unternehmens seine Gunst erweise und euren Plänen ebenso wie dem wissenschaftlichen Eifer der Lernenden zu glücklichem Gelingen verhelfe. Hier endet meine Rede.



1 Die vorliegende Übersetzung (mit gekürzter Kommentierung) wurde entnommen: Melanchthon deutsch. Band 1, hrsg. von Michael Beyer/Stefan Rhein/Günther Wartenberg, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 1997, S. 92-101. Der lateinische Text der Rede findet sich im 11. Band des ‘Corpus Reformatorum’ (CR), S. 106-111.

2 Zum Folgenden: Hugo Steiger, Das Melanchthon-Gymnasium in Nürnberg (1526-1926). Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus, München und Berlin 1926; MSA 3, 63f.; Gerhard Pfeiffer (Hrsg.), Nürnberg - Geschichte einer europäischen Stadt, München 1971, 146-158; 450 Jahre Melanchthon-Gymnasium. Festschrift und Jahresbericht 1975/76, Nürnberg 1976; Heinz Scheible, Philipp Melanchthon. Eine Gestalt der Reformationszeit, Karlsruhe 1995.

3 Trivium (‘Dreiweg’): Grammatik, Rhetorik, Dialektik. In Nürnberg gab es vier Trivialschulen: bei St. Sebald, St. Lorenz, St. Egidien und beim Hl. Geistspital.

4 Die Szenerie hielt der Karlsruher Kunstprofessor August Groh 1920/21 in einem Historiengemälde fest (Wandgemälde im Melanchthonhaus Bretten; Scheible S. 75 mit Abb. 17). Eine Nachzeichnung hängt jetzt im Melanchthon-Gymnasium an der Wand des Treppenabsatzes vom zweiten zum dritten Stock.

5 Albrecht Dürers ‘Vier Apostel’, im Jahr der Schulgründung 1526 entstanden, tragen die Gesichtszüge an der Schulgründung beteiligter Personen: Der Evangelist Johannes ähnelt Melanchthon, Petrus ähnelt Michael Roting, Markus dem Poeten Eobanus Hessus und Paulus dem Rektor Camerarius. (Scheible S. 76f. mit Abb. 18, 1, 2, 15)

6 Das Lehrprogramm sah Dialektik, Rhetorik, freien Vortrag, Poesie, Geschichte, Mathematik und Griechisch vor. Sichere Lateinkenntnisse wurden als selbstverständlich vorausgesetzt, da die Unterrichtssprache ausschließlich Latein sein sollte.

7 Sparta besaß - als einzige griechische Stadt - während der Zeit seiner Vormachtstellung in Griechenland (7. - Anfang 4. Jh. v. Chr.) keine Ummauerung, erst in hellenistischer Zeit wurde eine Stadtmauer errichtet.

8 Aufgrund der Bedrohung und schrittweisen Eroberung des Byzantinischen Reiches durch die Osmanen kam es nicht erst seit dem Fall Konstantinopels (29. Mai 1453) zur Flucht griechisch-byzantinischer Gelehrter nach Italien, die den Anstoß zu einer intensiven Beschäftigung mit der griechischen Sprache und Literatur gaben. Florenz, in dem um 1440 die ‘Platonische Akademie’ neu gegründet wurde, wurde unter den Medici (Cosimo und Lorenzo) bald zum Zentrum des Renaissance-Humanismus.

9 Theodoros Gaza (geb. um 1398 in Saloniki) wurde nach seiner Flucht aus Griechenland vor den Türken 1447 in Ferrara der erste Professor der griechischen Sprache in Italien und war 1449-1455 Philosophieprofessor in Rom. Er gehörte zum Gelehrtenkreis um Kardinal Bessarion. Nach seinem Tod (1475) erschienen u.a. Übersetzungen des Aristoteles (De natura animalium, 1476) und des Theophrast (1483) sowie eine griechische Grammatik (1495).

10 Gemeint ist wohl Papst Sixtus IV. (1471-1481). Theodoros Gaza, der den Übersetzungsauftrag von dem humanistischen Papst Nikolaus V. (1447-55; Gründer der Vatikanischen Bibliothek) erhalten hatte, soll die von Sixtus empfangenen 50 Dukaten aus Entrüstung über die Gesinnung des Papstes in den Tiber geworfen haben...

11 „Pellitur e medio sapientia, vi geritur res.“ Hexameter aus dem historischen Epos Annales des römischen Dichters Q. Ennius (239-169 v. Chr.), zitiert bei Cic., Rede für Murena (14,30; 63 v.Chr.).

12 „Silent enim leges inter arma“ (Cicero, Rede für Milo 4,11; 52 v.Chr.).