Schulgeschichte

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Melanchthon, Nürnberg und die Gründung des ersten deutschen Gymnasiums

Schulwesen und Humanismus im Nürnberg des ausgehenden Mittelalters

Nürnberg war für die Aufnahme des Humanismus an sich nicht besonders prädestiniert. Es besaß keine Universität; seine Führungsschicht war nüchtern-kaufmännisch ausgerichtet und betrachtete die Humanisten reserviert. Aber die Nürnberger Oberschicht ließ ihren Söhnen eine gediegene, wenn auch hauptsächlich kaufmännisch-juristische Ausbildung zukommen, und diese konnte man am besten in Italien erwerben. Dort gerieten die Patriziersöhne unter den Einfluss des Humanismus.

Die so geprägten Humanistenfreunde drangen nun auf die Gründung einer eigenen, von kirchlichem Einfluss freien und nach humanistischen Prinzipien ausgerichteten neuen Schule neben den vier bereits bestehenden traditionellen Lateinschulen. Im März 1496 beschloss der Rat, eine sogenannte "Poetenschule" einzurichten und berief als ihren Leiter Heinrich Grieninger aus München. Er hatte in Italien studiert und besaß gute Kenntnisse der lateinischen Literatur, auch des Griechischen und Hebräischen. Freilich war dieser Poetenschule kein dauerhafter Erfolg beschieden: Bereits 1509 hörte sie auf zu bestehen, weil es ihr an Schülern mangelte.

Melanchthon und Nürnberg

Im August 1518, auf der Reise von Tübingen zu seinem neuen Wirkungsort Wittenberg, kam Philipp Melanchthon zum ersten Mal in die bedeutende Reichsstadt. Er besuchte den Ratsherrn und Humanisten Willibald Pirckheimer, mit dem er schon brieflich in Verbindung stand. (Der Briefverkehr mit Empfängern in Nürnberg reißt in den folgenden Jahren niemals ab; er erreicht seinen größten Umfang in der Zeit, als der persönliche Freund Joachim Camerarius Rektor der neuen "Oberen Schule" ist.)

Nach 1518 entwickelten sich die Ereignisse in Nürnberg stetig in Richtung auf die Einführung der Reformation. 1523 kehrte der junge Patrizier Hieronymus Baumgartner von mehrjährigen Studien aus Wittenberg zurück, um in seinem weiteren Leben Nürnbergs Politik, insbesondere seine Kirchen- und Schulpolitik in immer höheren Funktionen mitzubestimmen. Die Freundschaft zu seinem Lehrer Melanchthon blieb lebenslang bestehen.

Das Vordringen der Reformation in Deutschland ging vielfach mit einem Niedergang des Unterrichts an Universitäten und Schulen einher. Die humanistische Kritik an der Scholastik wurde von der Reformation noch verstärkt und vielfach einseitig verstanden: Man wollte keine Grammatik und Logik mehr lernen, sondern "gut lutherisch" sofort die brennenden Heilsfragen studieren. Gerade in Wittenberg strömten die Studenten in die neu angebotenen Auslegungen der biblischenSchriften. Diese Haltung schlug auch nach unten auf die Lateinschulen durch, wo immer sich die Reformation durchsetzte. An den Klöstern, die von ihren Mönchen verlassen wurden, gingen die Schulen ohnehin zugrunde, wenn sich nicht eine "weltliche" Möglichkeit der Fortführung des Unterrichts fand.

Den Wittenberger Reformatoren brannte die Situation auf den Nägeln - war doch gerade für Melanchthon der sichere Umgang mit den Alten Sprachen unabdingbare Voraussetzung für ein fundiertes theologisches Studium einerseits, aber auch für den Umgang mit allen anderen Wissenschaften. Der Verfall der Schulbildung und des Studiums an der Artistenfakultät musste in seinen Augen verheerende Folgen haben. Luthers Appell von 1524 "An die Radherren aller stedte deutsches lands das sie Christliche schulen aufrichten und hallten sollen" entsprach voll der Überzeugung und den Forderungen Melanchthons.

Die Gründung der "Oberen Schule" in Nürnberg 1526

Am 18. Oktober 1524, also noch vor dem offenen Übertritt Nürnbergs zur lutherischen Lehre, beschloss der Rat, Melanchthon für den Schulunterricht in der Reichsstadt zu gewinnen und beauftragte Hieronymus Baumgartner mit den Verhandlungen. Melanchthon lehnte ab; er fühlte sich Martin Luther und der Wittenberger Universität verpflichtet.

An sich war ja auch Nürnberg mit Schulen reichlich versehen. 1525 übergab der letzte Abt des Schottenklosters bei St. Egidien, Friedrich Pistorius, sein Kloster der Stadt. Sie übernahm damit zu ihren drei Lateinschulen bei St. Sebald, St. Lorenz und Heilig Geist eine vierte und mit ihr die Schulaufsicht und die Kosten. Schon die drei anderen Schulen deckten an sich den Bedarf - genügte ja ihr Besuch mit dem erfolgreichen Erwerb der lateinischen Sprache für das Studium an jeder europäischen Universität.

Ein Zwischenglied zwischen Lateinschule und Universität erschien aber aus zwei Gründen sinnvoll. Erstens mussten die Studiosi in sehr jungen Jahren - oft nur 13 oder 14 Jahre alt - Elternhaus und Heimat verlassen, um sich in einer fremden Stadt in das im Wortsinn oft lebensgefährliche Studentenleben zu stürzen. Zweitens waren sie oft nicht genügend vorgebildet; humanistische Professoren wünschten sich von ihren Studenten gründlichere Kenntnisse der lateinischen und griechischen Klassiker. Deshalb schien für eine neuartige "höhere Schule" durchaus Bedarf zu bestehen. Im September 1525 richtete der Rat abermals eine Bitte an Melanchthon, bei der Gründung einer neuen Schule behilflich zu sein. Und diesmal sagte Melanchthon zu: Er sei bereit, nach Nürnberg zu kommen, wenn ihm sein Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise, Urlaub gebe. Und er kommt tatsächlich im November 1525 mit seinem Freund Joachim Camerarius, den er zum Rektor ausersehen hat, um mit dem Rat den Lehrplan zu besprechen. Reich beschenkt verlässt er die Stadt und macht sich daran, Lehrer für die neue Schule zu gewinnen.

Die Verhandlungen führen dazu, dass Joachim Camerarius die Leitung der Schule und die Stelle als Lehrer des Griechischen übernimmt; Eobanus Hesse soll die römischen Dichter erklären und lateinische Dichtkunst lehren; für Rhetorik und Dialektik wird Michael Roting ausersehen, für Mathematik Johannes Schöner. Die Lehrer wurden für die damalige Zeit sehr gut bezahlt. Ihre Gehälter bewegten sich auf der Höhe der Einkommen von Universitätsprofessoren: Camerarius und Hesse erhielten je 150 Gulden, Roting und Schöner je 100 Gulden. Dies spricht auch für die Bedeutung der an die Schule Berufenen.

Zur Eröffnung der Schule wurde Melanchthon vom Rat abermals nach Nürnberg eingeladen. So kam er im Mai 1526 zum dritten Mal in diese Stadt. Die Vorgespräche zogen sich noch mehrere Tage hin. Am 22. Mai 1526 informierte der Rat alle Bürger und forderte sie auf, begabte Kinder auf Kosten der Stadt in die neue Schule zu schicken. Als Schulhaus war das seit dem Auszug der Schottenmönche leerstehende Kloster am Egidienberg vorgesehen. Am 23. Mai 1526 wurde die "Obere Schule bei St. Egidien" mit einer feierlichen lateinischen Rede Melanchthons eröffnet. Den Einzug der Honoratioren hat der Karlsruher Kunstprofessor August Groh in einem großen Wandgemälde in der Eingangshalle des Melanchthonhauses in Bretten nachempfunden, das in den Jahren 1920/21 entstanden ist und den typischen Stil von Historiengemälden der 20er Jahre zeigt. Die Rede ist wegen ihrer geballten klassischen Rhetorik für heutige Menschen nicht mehr ganz leicht zu vertragen, obwohl die Kerngedanken durchaus auch heute noch Aktualität beanspruchen können. Als Beispiel sei ein Satz zitiert, der in seiner gleichnishaften Bildhaftigkeit sehr eindrucksvoll ist: „Denn für die Städte sind nicht die Bollwerke oder Mauern zuverlässige Schutzwälle, sondern die B ü r g e r , die sich durch Bildung, Klugheit und andere gute Eigenschaften auszeichnen. Die Spartaner sagen, die Mauern müssten aus Eisen, nicht aus Stein sein. Ich aber bin der Meinung, dass eine Stadt nicht so sehr durch Waffen als durch Klugheit, Besonnenheit und Frömmigkeit verteidigt werden sollte....“  

Das erste humanistische Gymnasium in Deutschland

Damit hatte Nürnberg nach fast zweijährigem Vorlauf seine neue Schule. Sie war die dritte, die nach dem Sendschreiben Luthers vom Jahre 1524 gegründet wurde. Magdeburg und Luthers Geburtsstadt Eisleben waren 1525 mit Lateinschulen vorangegangen, auf deren Lehrplan Melanchthon ebenfalls erheblichen Einfluss genommen hat. Aber der Nürnberger Rat hatte mit seiner "Oberen Schule" etwas Besonderes geschaffen. Sie sollte mit dem Stoff der obersten Lateinklasse beginnen, d.h. nur solche Schüler aufnehmen, die an einer der üblichen Lateinschulen Wortschatz und Grammatik bereits gründlich gelernt hatten. Damit kam die neue Schule einer humanistisch reformierten Artistenfakultät nahe: Es wurden Dialektik und Rhetorik, lateinische Klassiker und eigenes Dichten (sozusagen "kreatives Schreiben"!) gelehrt, dazu Griechisch, Mathematik, Musik und Religion, ferner fakultativ Hebräisch, die Sprache des Alten Testaments. Von den Schülern wurden wöchentlich schriftliche Übungen in Prosa und Versen verlangt. Auch regelmäßige Disputationen waren vorgesehen - lauter Anklänge an den Ausbildungsplan, den Melanchthon in seiner Antrittsrede in Wittenberg 1518 "De corrigendis adulescentiae studiis" für die Universität gefordert und in Wittenberg auch durchgesetzt hatte. Mit den drei Säulen Latein, Griechisch und Mathematik, daneben nach Melanchthons besonderem Interesse mit Sicherheit immanent auch Geschichte, mit der umfangreichen Übertragung von Lehrstoffen der Artistenfakultät der Universität als Oberstufe auf die Lateinschule hat Melanchthon gewissermaßen die Grundidee der Humboldtschen Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts vorweggenommen. Man kann deshalb wohl zu Recht von der Nürnberger "Oberen Schule" als von dem ersten humanistischen Gymnasium in Deutschland sprechen. Zudem war diese Schule als ein echtes Förderungsprogramm für Begabte eingerichtet: Immerhin war der Besuch dieser besonderen Schule kostenlos, und das in einer Zeit, da man für jede Handwerkslehre sein Lehrgeld entrichten musste. Das "Schulgeld" war sonst eine unausweichliche Begleiterscheinung jedes Schulbesuchs.

Fünf höhere Schulen in Deutschland sind heute nach Philipp Melanchthon benannt. Keine von ihnen darf wohl mit größerem Recht diesen Namen für sich beanspruchen als das MELANCHTHON-GYMNASIUM NÜRNBERG, das als einziges seine Gründung auf den großen Humanisten selbst zurückführen kann und das bis heute das humanistische Grundprogramm jener Zeit mit den klassischen Fächern Griechisch, Latein und Mathematik aufrechterhält. Die modernen Fächer, die sich um diesen Kern gruppieren, verschaffen den Abiturienten dieser Schule auf den geistigen Grundlagen Europas eine zeitunabhängige allgemeine Bildung und Studierfähigkeit, die von keiner anderen, stärker spezialisierten schulischen Ausbildung zu übertreffen ist.

Hartmut Fritz, ehem. Direktor des MGN